Wann ein ganzes Volk keine Zukunft hat

Es gibt in jedem Volk geheiligte Berufe. Jesus Sirach schreibt mal darüber, dass für eine Stadterrichtung ein Steinmetz, Schreiner, erfahrener Handwerker erforderlich sei. Ebenso ein alterserfahrener Weiser, Priester, Fürst, Kämpfer sowie manche mehr, damit in der Stadt das Leben entsteht und brodelt, damit mit der Zeit die Stimme eines Bräutigams und einer Braut hörbar würden und Kinder weinten, damit die Stadt lebendig und mit Leben erfüllt würde.
Somit gibt es auch in jeder Gesellschaft geheiligte Berufe. Der Soldat müsste wie in seiner Zunft erfahren so auch mutig, unbestechlich und patriotisch sein. Der Arzt müsste wie auf seine Weise an Erfahrung gereift als auch liebeerfüllt und opferbereit sein. Er müsste bereit sein, auch im schlechten Schuhwerk an das andere Ende der Stadt zu rennen, um Jung wie Alt, Arm wie Reich zu heilen. Da gibt es einen hohen Forderungskatalog.
So ist dann auch der Erzieher ein geheiligter Beruf, allein schon deswegen, weil „Lehrer" einer der Namen von Jesus Christus war. Der Mensch soll also mit seinem Feuer andere Herzen entzünden, in der Hoffnung, dass die betreffende neue Feuersglut stärker sein wird als bei ihm. Ein echter Lehrer wünscht, dass seine Schüler erhabener als er würden. Dabei will er nicht nur die Masse des Wissens auf andere Köpfe übertragen, sondern neues Feuer entzünden. Er muss ebenso opferbereit, aktiv, liebeerfüllt, aufmerksam und sicherlich qualifiziert und gebildet sein.
Das ist nun eine einfache Auflistung einiger geheiligter Berufe. Wenn es solche nicht gibt, gibt es auch keine Gesellschaft. Die Gesellschaft wäre dann ein absterbender Körper. Denn wenn der Polizist ängstlich, der Soldat verkäuflich, der Richter korrupt ist und der Arzt nicht zum Kranken eilt sowie der Pädagoge nicht unterrichten kann, dann ist es bald aus.
Darüber spreche primär nicht ich – gestern gab es mich noch nicht, heute bin ich nun und morgen bin ich wieder weg. Darüber spricht die Heilige Schrift. So wird beim Propheten Isaias im 3. Kapitel berichtet, welches Elend bei einem Volk entstehen könnte. Das eine ist, wenn der Feind gekommen ist oder Hungersnot entsteht, weil die Erde wegen Trockenheit nichts hervorgebracht hat, oder wenn sich ein Selbsternannter auf den Königsthron gesetzt hat.
Dagegen gibt es auch Elend, wenn sich das ganze Volk gewissermaßen in eine von Motten zerfressene Kleidung verwandelt hat. Wenn alle erbärmlich werden und nicht ihrer Berufung entsprechen. Isaias spricht vom (geistigen) Tod der Menschen, der vor dem (biologischen) Tod eintritt, vom Aussterben eines Volkes, bevor nämlich äußere feindliche Umstände eingetreten sind. „Seht, hinwegnimmt der Heerscharen Herr von Jerusalem und Juda Stab und Stütze, jede Stütze an Brot, jede Stütze an Wasser" (Is 3,1). Darauf folgt eine Auflistung dessen, wen der Herr von Jerusalem und Juda wegnimmt: „Den Helden und Streiter im Krieg, Richter und Propheten, den Weisen und Ältesten, den Hauptmann und Mann von Ansehen, den Ratsherrn, den Meister in Künsten und den Wortbeflissenen. Knaben mache Ich zum Herrn über sie. Mutwillige Buben sollen ihnen gebieten." (Is 3,2-4.)
Das ist das Bild einer Gesellschaft, welche an Gesetzeslosigkeit abstirbt. Der äußere Feind ist nicht gekommen, aber sie stirbt dennoch. Sie verkam, wurde ekelhaft und zu einer Leiche. Der Richter, der korrupt wird, ist kein Richter mehr; der Weise, dessen Verstand verworren wird, ist kein Weiser mehr; der Kämpfer, der sich für höhere Summe verdingen lässt, wird zum Söldner, dem das Vaterlang egal wird. Die führende Schicht zerlief in verschiedene Richtungen und das Volk zerfiel wie ein aufgebrochenes Puzzle-Bild in seine Einzelteile. Es gibt kein Volk mehr.
Dann werden eben Kinder über das Volk herrschen, Knaben werden zu Leitern und Kinder herrschen. Ein Volk wird ein anderes unterjochen und jeder seinen Nächsten. „Der Jüngling wird sich frech über den Greis stellen und der Ehrlose über den Ehrbaren" (Is 3,5).
Das alles wurde sechs Jahrhunderte vor dem Kommen Christi in die Welt gesagt. Heute fing seitdem schon das dritte Jahrtausend an, aber es wurde gesagt, als ob es über uns heute gesprochen worden wäre. Denn wir erleben heute, ich weiß nicht warum, das Sterben ohne Krieg. Es gab schon den Tod wegen Hungersnot und einfallender Feinde. Dass wir aber heute sterben!
Wir verschwinden so langsam, weil es keine Gerechtigkeit bei Gerichten, keinen Mut im Heer, keinen Verstand bei Lehrern, keine Ehrlichkeit und Liebe bei Ärzten, keine Heiligmäßigkeit bei Priestern, kein Fasten bei Mönchen, keine Unschuld in den Kindern und keine Weisheit bei den Ältesten gibt. Was sollen wir uns dann auch über manches andere wundern.
Wie das alles passieren konnte, ist natürlich eine Frage für die Zukunft. Sie verarbeitet und bewertet dann unsere heutige Geziefer-Realität. Die Schrift gibt uns eine gewisse Matrix, nach welcher man das eigene Leben mit dem vergleichen kann, wie es früher war. Es gibt nämlich gewisse allgemeine Gesetze.
In demselben 3. Kapitel bei Isaias wird dann noch etwas weiteres berichtet, was schrecklich ist: „Das Aussehen ihres Antlitzes legt Zeugnis gegen sie ab. Wie zu Sodoma sprechen sie offen von ihrer Sünde. Weh ihnen! Sich selbst nur fügen sie Übel zu." (Is 3,9.)
Es ist ja jedem, der einigermaßen mit der Bibel vertraut ist, gut bekannt, womit sich die Bewohner von Sodom beschäftigt haben. Normalerweise schämt sich ein Sünder seiner Sünde. Die Sünden wurden immer und von allen begangen und im Prinzip ähnlich. Im Hinblick auf die Sünde selbst haben die Menschen sozusagen nichts Neues erfunden. Was es vor der Sintflut gegeben hat, das gibt es auch heute. Dennoch wussten die Menschen, dass man so nicht darf. Sie schämten sich ihrer Sünden und bemühten sich, sie geheim zu halten. Sie baten Gott, dass ihre Sünden vor Engel und anderen Menschen verborgen sein mögen, dass sie gereinigt würden von ihren Gebotsübertretungen. Man schämt sich ihrer Bekanntwerdung und quält sich wegen des schlechten Gewissens, man errötet und leidet im Herzen.
Dann gibt es aber eine Grenze, die überschritten wird, wenn der Mensch sich seiner Sünden nicht mehr schämt, wenn er sich überzeugt fühlt, dass es so auch sein müsse. Dann errötet er nicht mehr, sondern spricht von der Sünde ganz offen – er handelt dann wie ein Bewohner von Sodom, ein Sodomit. Weh ihrer Seele! Das ist auch über jene Menschen gesagt, die verschwunden sind – mutige Soldaten und ehrliche Lehrer.
Wir scheinen so weit gekommen zu sein. Wir sprechen ja heute offen über unsere Sünden und machen die Gesetzlosigkeit zur Norm. „Mein Volk, Verführer sind deine Führer. Sie verwirren den Lauf deiner Pfade" (Is 3,12).
Es liegt daran, Brüder und Schwestern, dass wir wegen der totalen Liebe zur Sünde, dem schrecklichen Mangel an Reue, der allgemeinen Verliebtheit in die Heuchelei, welche uns alle erfasst hat – mich, Sie – schon wie mit einem Bein über die Grenze geschritten sind. Es scheint so, als würden wir nicht mehr unserer (geistigen) Daseinsberechtigung entsprechen. Denn wenn ein Mensch das Leben eines unvernünftigen Tieres führt, ist er ebenfalls irgendwie verdammt, wie ein Tier den anderen zu Diensten zu stehen. Er ist (im übertragenen Sinn! - Anm.) nicht würdig zu leben.
Wenn aber ein ganzes Volk alle moralischen Normen übertritt und so Gott mit solcher Abscheulichkeit reizt, ist es ebenfalls (in demselben übertragenen Sinn! - Anm.) nicht würdig zu leben.
Wie es aussieht, haben wir uns heute diesem Zustand angenähert. Das ist ein Faktum. Zwar kann man die Augen schließen und Schuldige suchen. Unser Volk wurde gewogen und für zu leichtgewichtig befunden. Es ist unbekannt, was uns der morgige Tag bringt. Allerdings ist mir eins ganz klar, dass wir ohne eine solche tiefe Reue, die wie Feuer in der Seele brennt und ohne ernsthafte Tränen keine Zukunft haben.

Ein Priester der Ostkirche

 

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